Textauszug
Das erste Kapitel spielt auf dem Brünsteiger Friedhof: Immerhin kam mit seiner Flucht Abwechslung in die alltägliche Monotonie und vertrieb die Langeweile. In Brünsteig strotzten die Tage sonst davon; öde, widerliche, zähe Langeweile, die an allem klebte und die alles vergiftete. Merkte man ihm an, dass er sich langweilte? Hasste das Dorf ihn deswegen? Denn es war Hass, der ihn ins Mausoleum getrieben hatte. Nicht sein eigener, sondern Brunos Hass. Die Nacht versprach einzigartig, bedeutend und womöglich tödlich zu werden. Das könnte Bruno so passen: Selbstmord auf dem Friedhof – selbst das eigene Grab schaufeln. Fehlte bloss ein Strick, eine Pistole oder Gift in all dem Dreck, der hier herum lag. Den leeren Flaschen, Zigarettenschachteln und dem anderen achtlos weggeworfenen Wohlstandsmüll. Das gebrauchte Kondom hatte er mit einem Schraubenzieher – wer hatte wohl den verloren? – unter die fleckige Matratze geschoben, auf der er auf dem Rücken lag, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Draussen tobte der Schneesturm um das kleine Mausoleum für die fremden Soldaten, das so gar nicht zum Gräberfeld von Brünsteig mit seinen Holzkreuzen passte. Ein unfriedlicher Friedhof voller Lärm und seltsamer Geräusche. Er würde nicht aufgeben, dachte Paul. Ohne das ausgeliehene Grablicht läge er im Dunkeln. Der rote Kerzenschein flackerte an den verschmierten und vollgekritzelten Wänden: „In Brünsteig ist es cool, und wer nicht säuft ist schwul.“ „Die Liebe ist ein Mist, wenn du alleine bist.“ „Saufen und rauchen rund um die Uhr: Brünsteiger Bergkultur.“ Ein paar Hakenkreuze, mit plumpen Strichen gezeichnete Geschlechtsteile, eindeutige Angebote mit Telefonnummern. Er hatte noch immer den Schraubenzieher in der Hand. Das Aufstehen mit dem Schlafsack ging einfacher, als er sich gedacht hatte. Ganz oben, wo ein senkrecht stehender schwarzer Penis mit kreisrunden Hoden Richtung Decke ejakulierte, begann Paul mit dem Schraubenzieher Buchstaben zu kratzen: VORHANDEN 1 EXPEDITIONSSCHLAFSACK 1 PAAR FLIPFLOPS Schnell merkte er, dass er nur gerade Striche in den Putz kratzen konnte. Das S von Flipflops glich einer Rune. Konzentriert begann er die nächste Zeile. Wie der Steigbach brauste! Paul hielt mit Kratzen inne. An seinen Ufern war er manchmal glücklich gewesen. Dort hatte er ihm sein Leid geklagt und das Wasser hatte zugehört, zustimmend gerauscht, wohlwollend geplätschert und mit den Wellen verständnisvoll geblinzelt. Alles Widerwärtige weggespült. Der Steigbach war sein Freund. Oft sanft, aber wenn er wollte, trat er wütend über die Ufer. Dann hatten die Brünsteiger Angst. Sogar Bruno. 1 BADEHOSE 1 REGENMANTEL Zugegeben, er hatte seinen Stiefvater gereizt. Ohne Absicht und unüberlegt. Als sie sich zum Abendessen setzten, als draussen der Schneesturm zu toben begann. „Hörst du das? Hörst du diesen Schneesturm? Hört sich so Schneemangel an, Paul?“ hatte Bruno gesagt und grinsend in die Runde geschaut, die mit Ausnahme von Paul genüsslich zurück grinste. Seine Mutter grinste, Pauls Stiefbruder Johnny grinste, aber am meisten grinste sein Stiefvater. |
Ein humorloses Grinsen. Eher ein Zurückziehen der Mundwinkel, ein Blecken der Zähne. Paul hatte darauf nur ein ironisches „Halleluja“ gemurmelt. Bruno, der sarkastische Zyniker, verstand keine Ironie. Es wäre klüger gewesen, Paul hätte geschwiegen, denn die Reinen hatten um viel Schnee gebeten, damit Brünsteigs einziger Skilift länger als ein paar Tage eine Piste anbieten konnte. Alle zusammen hatten die Reinen im Allergeweihtesten den Himmel um Schnee angefleht.
Anstatt zu beten hatte Paul zu den Mädchen auf der anderen Seite des Mittelgangs geschielt. Er, der sowieso schon schielte. Doppeltes Pech: Er hatte sie, nach der er suchte, nicht entdecken können, dafür war Bruno auf sein zusätzliches Schielen aufmerksam geworden. Paul hatte damit gegen alle drei Grundsätze der Reinen verstossen, die an der Stirnwand des Allergeweihtesten zu lesen waren: „Sei tüchtig, züchtig und willig.“ Mutter, Stiefvater und Stiefbruder hatten ihn für seine moralischen Verfehlungen getadelt.
Nach der Trennung von Vater und seinem Tod hatte sich Mutter stark verändert. Seit sie in Brünsteig lebte, war sie eine andere Frau geworden, fast eine Fremde. Paul fröstelte es trotz seines Schlafsacks. Schon in der Stadt und als Vater noch lebte, war sie ein Mitglied der Reinen geworden. Im dortigen Allergeweihtesten hatte sie Bruno kennengelernt, was zur Trennung führte. Es geschah schnell. Am Tag zuvor erzählte ihm seine Mutter, dass Vater gestorben sei, dann lud Bruno die Witwe und Paul ein, mit ihm und seinem Sohn Johnny zusammenzuziehen. Nicht in die Stadt, oh nein. Nicht in diesen Sündenpfuhl mit den unzähligen Kriminellen und den vielen Ausländern. Er habe ein Haus in Brünsteig, in den Bergen. Reine Luft, reines Wasser, weisse Bergen, grüne Wiesen, dunkle Wälder und blauer Himmel so weit das Auge reiche. Nur rechtschaffene Menschen lebten dort, tüchtig, ordentlich und mit der rechten Gesinnung. Der ganze Gemeinderat bestehe aus Mitgliedern der Reinen und niemand in Brünsteig verschliesse die Türen – weder am Tag noch in der Nacht. Nicht einmal einen Polizeiposten gäbe es in Brünsteig, so friedlich sei es dort. Seine Mutter schwieg eisern, wenn er über seinen Vater reden wollte, auch warum es keine Abdankung gegeben hatte, und dann war da noch Bruno. 2 STEIFEL Der verdammte Penis! Paul kratzte den STEIFEL weg und schrieb darunter: 2 STIEFEL 1 GRABLICHT 1 DACH Brünsteig erschien durch Brunos unablässiges Werben als Paradies auf Erden, in das jeder vernünftig denkende Mensch ziehen sollte. Er, Bruno, würde für Paul kein Stiefvater sein, sondern ein Familienoberhaupt, das den verstorbenen Vater nicht nur ersetzen, sondern ihn in der Erziehung ganz klar übertreffen und aus Paul einen wertvollen Menschen machen würde, dankbar für seine strenge, aber gerechte Erziehung. |
Dankbarkeit? Hier, im Mausoleum? Nein, er war traurig und wütend. Der Kloss im Hals und das Herzklopfen wollten nicht verschwinden. Wo war seine übliche Zuversicht? Wo der Glaube, dass es schon vorbei gehen, es irgendwann gut werden wird? Dass alles vorbei geht. Dabei hatte er sich schon ausgemalt, wie er mit ihr einen Spaziergang machen, ihr seine Lieblingsplätze am Steigbach zeigen könnte. Sie war schlecht in Mathematik. Er war Klassenbester. Das wäre einguter Vorwand gewesen. Andrea, hätte er in einer Pause gesagt, wenn du willst... Vielleicht hätte die Sonne geschienen und er hätte hinter einer Sonnenbrille sein Schielen verstecken können. So hätte es vielleicht geklappt. Er streckte sich, kratzte sich mit dem Schraubenzieher zuerst am Kopf und schrieb dann an der Wand weiter:
1 MATRATZE 1 SPINNE Bis jetzt hatte er warm und weder Hunger noch Durst. Das Abendessen war ausgefallen und das Frühstück würde ausbleiben. Er hätte die Tirade seines Stiefvaters gegen die Wissenschaftler im Allgemeinen und die Klimaforscher im Besonderen nicht mit „Halleluja“ kommentieren sollen. Er hätte sagen sollen, dass er sich geirrt habe, dass die Klimaveränderung nur Angstmacherei sei, dass es schon früher Schneemangel gab, es immer wieder schneien werde, er sich für den Brünsteiger Skilift freue und nun alles einfach gut sei, auf immer und ewig. Bruno hatte ihn nach dem Halleluja wortlos aus zusammengekniffenen Augen angestarrt, denn das machte er immer beim schwerfälligen, viel Zeit beanspruchenden Nachdenken. Endlich hatten sich seine Gesichtszüge aufgehellt:
Was wollte Bruno von ihm? Gehorchen musste er. Bruno war viel grösser und stärker als Paul, mindestens doppelt so schwer, ein Riese, und er schlug sie alle: Ursula, Johnny und besonders ihn. Immer wieder und völlig unberechenbar, wegen Nichtigkeiten. Viel zu spät stand er wieder vor Bruno und erwartete die obligaten Prügel.
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...die Wand, stiess ihn dann in den Korridor und vor die Haustüre, in den Schneesturm hinaus und sperrte hinter ihm zu. Hörbar schloss Bruno die Tür ab, als Paul sich noch aufrappelte und sich den Schnee vom Körper wischte!
Das Schneetreiben war so dicht, dass es Haus, Garten und Garage, ja ganz Brünsteig mitsamt seinen Wiesen, Weiden, Wäldern und Bergen verschluckte. Wo sollte er hin? Klopfen, damit man ihn wieder reinliess? Bis zur Garage waren es wenige Schritte. Nass und vor Kälte schlotternd stand er in dem düsteren Raum mit dem unförmigen, dunkelbraunen Auto mit Vierradantrieb, das nach Motoröl und Diesel stank. Stöhnend rieb er sich die Stellen, wo er blaue Flecken bekommen würde. Mit dem Abklingen der Schmerzen kroch Wut in ihm hoch, brodelnder Zorn: „Gelassen bleiben,“ sagte er laut zu sich selbst, „ruhig bleiben! Ich bin nicht enttäuscht darüber, was du getan hast, sondern über meine Dummheit. Wie leichtgläubig und naiv, dass ich das nicht erwartet habe! Mein Leben lasse ich mir von dir nicht versauen. Du versaust dir bereits dein eigenes Leben gewaltig. Warte nur! Ich kann es dir noch mehr versauen!“ Sein Blick fiel auf einen Stechbeutel auf dem Gestell und dann auf das Auto. Er ergriff das Werkzeug und schrammte den dunkelbraunen Lack – vom Bug zum Heck, dann wieder zurück und noch einmal von vorne nach hinten tief auf. Die Farbe barst, splitterte und platzte. Der Lärm des Stechbeutels stachelte ihn an und er malträtierte auch noch die andere Autoseite. Zum Schluss zerkratzte er die Kühlerhaube – hin und her und her und hin, noch mehr und noch tiefer. Er trat einen Schritt zurück und betrachtete schwer atmend sein Werk, das ihn nur einen Augenblick erfreute, denn gleich darauf geriet er in Panik: Würde Bruno das Auto entdecken, dann drohten nicht nur Schläge, sondern Schlimmeres. Er musste sofort weg, fliehen. Paul schnappte sich vom Gestell seinen dicken Schlafsack, ein Geschenk seines Vaters, den er sich über die Schultern legte und zog darüber Brunos gigantischen Regenmantel an, schlüpfte samt Flipflops in die riesigen Gartenstiefel und stolperte aus der Garage. Wohin jetzt? Auf dem nahegelegenen Friedhof stand ein Mausoleum, erbaut als Ruhestätte für fremde Soldaten und nun oft als Liebeshöhle von Brünsteigs notgeilen Jugendlichen zweckentfremdet – Liebesakt im Massengrab. Dort wäre er einigermassen vor dem Sturm geschützt. Bei diesem Wetter jagte niemand einen Hund vor die Türe. Keiner würde ihn sehen. Hastig machte er sich auf den Weg und dachte dabei an das Unglück, an welches das Mausoleum erinnerte. Die Soldaten waren Internierte gewesen, die aus irgendwelchen Gründen in einem längst vergangenen Krieg hierher gekommen und gezwungen worden waren, von Brünsteig aus eine Strasse zum künftigen Stausee zu bauen. Die Explosion in einem Tunnel riss die Opfer dermassen in Stücke, dass die gefundenen Überreste nicht wieder zusammengesetzt werden konnten und deshalb unsortiert im Mausoleum ruhten, unter Matratze und Grabplatte. Die Mausoleumsdecke war zu hoch für Kritzeleien und Zeichnungen, dafür hatte es jede Menge Spinnweben. Eine grosse, fette Spinne, wohl durch die Wärme von Paul und der Kerze aufgewacht, war aus einer Ecke hervor gekrochen. Er mochte Tiere. In der Stadt hatten sie kein Haustier gehabt und in Brünsteig mussten die Tiere eine Aufgabe erfüllen, wenn sie zu fressen haben wollten. Die Katzen gingen auf Mäusejagd, die Hunde scheuchten das Wild auf und erschreckten die Fremden am Gartenzaun. Eigentlich zog Paul die eigensinnigen Katzen den abgerichteten Hunden vor, aber zur Not tat es auch eine Spinne als Haustier. Am Boden lag neben den leeren auch ein halbvolle Flasche. Obwohl er das Etikett nicht sehen konnte, wusste er: Schnaps. Brünsteigs Jugendliche betranken sich häufig bis zur Bewusstlosigkeit und es war schon vorgekommen, dass Betrunkene nach einem Saufgelage notfallmässig mit der Ambulanz zur Ausnüchterung gefahren werden mussten. Paul hustete. Der Schnaps brannte wie Feuer in seinem Hals. |
Neben der Flasche lag ein Trinkbecher aus Aluminium mit einer Gravur: NVMA Festung Scheitelhorn. War das nicht dieser Bunker weit oben in den Felsen? Er hatte gehört, dass die NVMA (Nationale Verteidigungs-Militärarmee) dort eine ganze Stadt in den Felsen gebaut hatte, mit Stollen, Gängen, Aufenthaltsräumen, Schlafsälen, ja sogar eine Küche soll es geben. Paul füllte den Becher mit Schnaps, prostete der Spinne zu und stellte zufrieden fest, dass er weniger husten musste.
Wie war dieser Becher ins Mausoleum gekommen? Bei einem Schulausflug hatte ihnen die Lehrerin dort oben die verschiedenen Gesteinsarten erklärt. Versteckt im Wald war eine Seilbahn, mit der Personen und Material zur Festung transportiert werden konnten. Gerne wäre er mit der Bahn gefahren. Die Klasse musste den Aufstieg zu Fuss über einen steilen, unwegsamen Pfad machen. Oben angekommen war von der Festung nur eine grosse Türe im Fels zu sehen, gut getarnt und vermutlich verschlossen. Was die Lehrerin über Bergkristalle, Quarze und andere Edelsteine zu erzählen wusste, tröstete ihn über die abgesperrte Türe hinweg. NICHT VORHANDEN TRAUBEN WÄRME LIEBE Genug geschrieben. Zeit für einen weiteren Schluck aus dem Becher. „Prost, auf die Liebe und die Wärme! Nicht wahr, Spinne?“ Er legte sich hin und schaute sich die Liste an. Viel Positives und wenig Negatives. Es wird schon vorbei gehen. Es wird irgendwann gut werden. Alles geht vorbei. In diesem Augenblick gehen die Türflügel auf und die Sonne scheint herein. Das Wetter ist klar, kleine weisse Wolken schweben am blauen Himmel und auf dem Friedhof wiegen sich die Blumen im warmen Wind. Endlich Sommer. Warum ist er auf dem Friedhof? Er hat Ferien und will mit Andrea in den Wald und zum Steigbach spazieren. Vielleicht auch bis in den Schöngrund hinauf. Dort oben soll es eine Geisterbahn geben. Eine Geisterbahn mitten in den Bergen. Verrückt! |